Gastbeitrag von Prof. Kurt Tittel (†)


Dieser Beitrag aus dem Dezember 2004 stammt von Prof. Dr. med. habil. Dr. h.c. Kurt Tittel (*19.07.1920, † 20.08.2016), ehem. Ordinarius für funktionelle Anatomie und Sportmedizin der Universität Leipzig. Prof. Tittel hat über Jahre mit großem Interesse die Entwicklung der dynamischen BIOSWING-Systeme verfolgt und einen fachlichen Austausch mit Firmengründer Eduard Haider gepflegt.

« Die für eine optimale Beanspruchbarkeit erforderliche Stabilität und Mobilität erhält die in sich bewegliche Wirbelsäule erst durch den Zusammenschluss und gut abgestuften Verbund vieler, zu gemeinsamem Handeln vereinten Gelenke, Bänder und Muskeln. Es handelt sich im Einzelnen um insgesamt 133 kleine Gelenke und um 224 Bänder, die vorrangig kurze, straffe Bindegewebszüge darstellen, die nicht nur Muskelarbeit sparen, sondern auch Halte-, Steuer- und Bremsaufgaben verrichten und extreme Bewegungsausschläge einschränken. Die auf den ersten Blick einheitlich erscheinende Wirbelsäulenmuskulatur, die qualitativ 34% der gesamten, aus 424 Muskeln bestehenden Skelettmuskulatur ausmacht, ist in Wirklichkeit in 143 unterschiedlich lange, paarige Einzelmuskeln untergliedert.

Die Wirbelsäulenmuskulatur mit ihrem oberflächigen und tiefen System.

 

Wir belasten das durch eine hintere Zugverspannung und eine vordere muskuläre Zuggurtung gesicherte Achsenskelett zumeist in toto, wenn auch bestimmte Abschnitte unseres Körpers unterschiedlich belastenden Einflüssen ausgesetzt sind, wofür der Übergang von der Wirbelsäule zum Kreuzbein – die „Schwachstelle“, die „Wetterecke“ des zentralen Achsenorgans, wo immerhin 75-80% aller Beuge- und Streckbewegungen der Lendenwirbelsäule ablaufen – ein typisches Beispiel ist.

Bereits Mollier (1938) und Benninghoff (1954) haben in anschaulicher Weise mit ihren Schiffsmastmodellen, die dem beim Gerüstbau verwendeten „Zugstangen-Prinzip“ ähneln, demonstriert, dass sich alle muskulären bindegewebigen Vertauungen unserer Wirbelsäule selbst in weitgehend körperliche Ruhe in einem ständigen Spannungszustand befinden und dass die Kontraktion eines einzigen Muskels eine fortwährende Nachregulierung des Gesamtsystems auslöst, um das Achsenskelett immer wieder in seine neue Position zu bringen und diese gleichzeitig zu sichern, was eine komplizierte Tätigkeit des zentralen Nervensystems erfordert, das bei jeder Bewegung durch abgestufte Impulse das ganze System einregulieren muss.


Selbst in weitgehend körperlicher Ruhe befinden sich alle muskulären Vertauungen in einem ständigen Spannungszustand!


Damit wird deutlich, dass unsere Wirbelsäule, die ununterbrochen Anteil an den Bewegungen und Belastungen des gesamten Körpers hat, eine zweckmäßige funktionelle Einheit darstellt, in der die einzelnen Teile immer nur aus der Ordnung und Funktion des Ganzen zu verstehen und zu bewerten sind.

Diese Funktionseinheit fungiert aber nur, wenn sie durch vorrangig dynamische Beanspruchung ein Leben lang herausgefordert wird. Dies erfordert – betrachtet man zum einen die derzeitig bei vielen unserer Menschen vorherrschende körperliche Unterforderung, die mit einem beschleunigten, messbaren Abbau an vorhandener Skelettmuskel-Masse (ab 35. bis 40. Lebensjahr um 3 bis 5% pro Dekade, ab 60. bis 70. Lebensjahr um 8 bis 10%) einhergeht, was unweigerlich einen Verlust an konzentrisch-dynamischer Muskelkraft, an Koordinationsvermögen, Schnelligkeit und Flexibilität bedeutet, sowie zum anderen die oft noch monotone, starre Sitzposition und fehlerhafte Haltung am Arbeitsplatz – ein grundsätzliches Umdenken, um die Arbeits- und Leistungsfähigkeit erhalten und chronische Fehlbelastungen des zentralen Achsenskeletts (mit allen negativen Folgen) vermeiden zu können.


Die zweckmäßige Funktionseinheit Wirbelsäule funktioniert nur unter stetiger dynamischer Beanspruchung!


Die Bestuhlungsindustrie hat erfreulicherweise den Ernst der Situation erkannt und schnell sowie nachhaltig reagiert. So hat die Firma HAIDER BIOSWING® durch die Konstruktion einer Stuhlgeneration, bei der auf den Sitzenden ständig minimale, feinste und genau ausgelotete, selbstinduzierte Schwingungen einwirken, das „dynamische Sitzen“ unter Berücksichtigung mechanischer, sensomotorischer und neurophysiologischer Abläufe in verdienstvoller Weise gefördert. Die dabei gesammelten Erfahrungen wurden von Eduard Haider für die Entwicklung neuer Therapie- und Trainingsgeräte genutzt, die sich in der Praxis weitreichend bewährt haben.

Durch das lebendige, körperfreundliche Sitzen kann das funktionell eminent wichtige Wechselspiel zwischen der Wirbelsäulen-, Bauch- und Beckenbodenmuskulatur, und damit der für eine hohe Leistungsbereitschaft und Konzentrationsfähigkeit wesentliche Bezug zwischen muskulärer Be- und Entlastung stimuliert werden, ein Erfolg, der sich nicht zuletzt auch im Wohlbefinden niederschlägt. »


Unsere Buchempfehlung für eingehendere Kenntnisse von Prof. Kurt Tittel:

Beschreibende und funktionelle Anatomie (16. Auflage)

ISBN 978-3-943324–72–3