In den vergangenen Jahren drängten immer mehr dynamische Sitzsysteme auf den Markt. Unterschiede gibt es dabei zuhauf, doch wo liegen diese? Und wie sind sie unter biomechanischen und neurophysiologischen Gesichtspunkten zu bewerten?
Dieser Beitrag erschien in der Dezemberausgabe 2019 der Fachzeitschrift „Die Säule“.
Als dynamisches Sitzsystem verstehen sich grundsätzlich Stühle jeglicher Art, deren Sitzflächen, also die Auflagen für das Becken und einen Teil der Oberschenkelrückseite, beweglich gelagert sind. Das Angebot ist – typisch Trendthema – augenscheinlich vielfältig, reduziert sich bei genauerer Betrachtung jedoch auf wenige Grundprinzipien. Zur leichteren Einordnung können fünf verschiedene Grundkonstruktionen dynamisch gelagerter Sitzflächen differenziert werden:
- Das Sitzgestell ist auf einer instabilen oder labilen Unterlage gelagert. Der Stuhl balanciert also beispielsweise gleich einem „Stehaufmännchen“ auf einer konvexen Fläche. Dies entspricht von der Bewegungsquantität und -qualität dem klassischen Sitzball oder dem „Ballprinzip“.
- Im unteren Sitzgestell befindet sich ein Bewegungselement, zum Beispiel ein Elastomer, eine Feder, ein Kugelelement oder ein sonstiges Gelenk. Das Sitzmobiliar steht mit festen Füßen auf einem festen Untergrund, die Sitzfläche „schwankt“ um das Bewegungselement. Auch hier kommt das „Ballprinzip“ zum Tragen.
- Befindet sich auf der Sitzfläche ein labiles Element, beispielsweise ein Kissen oder eine sehr weiche Aufpolsterung, kommt ebenfalls das „Ballprinzip“ ins Spiel.
- An beziehungsweise unmittelbar unter der Sitzfläche befindet sich ein instabiles oder ein labiles Kippelement, wie etwa ein Gelenk mit verschiedenen Freiheitsgraden oder ein Elastomer. Sitzexperten sprechen dann vom sogenannten Kreisel- oder Kippprinzip.
- Die Sitzfläche wird pendelnd gelagert. Dem Vorbild des Pendels folgend, wird diese Konstruktion als Pendelprinzip umschrieben.
Das Auge „sitzt mit“
Die Sitzkonstruktionen 1 bis 4 haben gemeinsam, dass die Sitzfläche in ein oder zwei Ebenen gedämpft oder ungedämpft kippt. Je näher sich dabei der Dreh- oder Rollpunkt an der Sitzfläche befindet, desto geringer ist der Raumgewinn der Sitzfläche und desto geringer fällt die Körperverlagerung des darauf Sitzenden im Raum aus. Die grundsätzliche Herausforderung: Während dieser Raumbewegungen fällt es schwer, gut zu schreiben, zu tippen oder sonstige feinmotorische Tätigkeiten auszuführen. Auch die Augen verlieren leicht den Blickkontakt auf ihren Fixpunkt, beispielsweise eine Zeile am PC-Bildschirm, und müssen diesen Fixpunkt immer wieder aufs Neue suchen. Denn unsere Augen als oberste Informationsgeber der motorischen Steuerung benötigen für die Blickfixierung eine ruhige Raumlage! Die Folge: Der Sitzende verharrt während feinmotorischer Tätigkeiten – trotz oder gerade wegen einer dynamisch kippenden Sitzfläche – in einer angespannten Körperhaltung auf dem Stuhl oder Hocker, um den Körper und damit die Blickrichtung ruhig und stabil zu halten.
Stabile Instabilität, oder: Ein Ausflug in die Physik
Wie sich die jeweiligen Konstruktionen oder Prinzipien dynamischen Sitzens verhalten, zeigt ein kurzer Exkurs in die Physik: Der Ball beziehungsweise der Kreisel (oder auch die Wippe) verändern abhängig vom Drehpunkt die Raumlage, sobald sie aus dem Lot geraten. Wir sprechen hierbei von einer instabilen Instabilität. Das Pendel hingegen schwingt immer in sein Zentrum zurück, nachdem es durch einen externen oder internen Impuls aus dem Lot geraten ist. Wir sprechen daher von einer stabilen Instabilität. Soweit die physikalischen Eigenschaften.
Sitzsystem oder Sitzaggregat?
Um den Begriff System gerecht zu werden, bedarf es natürlich mehr als nur einer beweglich gelagerten Sitzfläche. Diese Sitzfläche muss, damit sie überhaupt erst zu einem Sitzsystem werden kann, eine zweckgebundene Einheit bilden: Zum einen mit dem Gesamtkonstrukt Stuhl, zum anderen aber auch mit dem darauf sitzenden Menschen und dessen Zielhandlungen. Besteht zwischen dem dynamischen Stuhl und dem darauf Sitzenden in Bezug auf seine Zielhandlung kein Zusammenhang, so handelt es sich bei dem Stuhl lediglich um ein Sitzaggregat, nicht um ein Sitzsystem.
Becken-Stabilität fernab des Catwalks
Will man die Effekte eines dynamischen Sitzsystems bewerten, ist es unabdingbar, sich mit dem darauf sitzenden Menschen zu beschäftigen: Dem Menschen als biologisches Wesen, dessen Motorik ständigen Steuerungs- und Regelungsprozessen unterliegt. Im Stehen und Gehen müssen wir unser Becken als Basis des Rumpfes und als Fixpunkte unserer Beine aktiv stabilisieren, das heißt im Raum ruhig halten, ohne es (wie bei den Models auf dem Catwalk) seitlich abkippen zu lassen. Das Becken und der darauf aufbauende Rumpf samt Schultergürtel stellen die Fixpunkte unserer Extremitäten dar und werden durch das tiefenstabilisierende Muskelsystem schon vor der Bewegung auf die Zielhandlung eingestellt.
Mensch und Affe: Unterschiedlich und doch so gleich
Menschen sind die einzigen aufgerichteten Lebewesen und können in der aufrechten Haltung feinstmotorische Aktionen, wie etwa das Einfädeln eines Fadens in ein Nadelöhr, durchführen. Affen, die uns körperlich wohl am nächsten sind, können auch, zumindest kurzfristig, zweibeinig gehen und stehen. Sie müssen sich jedoch setzen, sobald sie etwas feinmotorisch mit ihren Händen machen möchten, beispielsweise eine Nuss knacken. Die Affen setzen sich, um ihr Becken auf einer festen Unterlage zu fixieren. Damit fällt Ihnen die Stabilisation des Rumpfes auf der Basis ihres fixen Beckens leichter. Ähnliches kann man auch beim Menschen beobachten, wenn er vor allem über längere Zeit sehr feinmotorisch agieren möchte: Das Tippen auf einer Tastatur, das Nähen an einer Nähmaschine. Gerade Menschen mit Instabilitäten im Wirbelsäulen- und/oder Beckenbereich setzen sich gerne und können nicht lange im Stehen feinmotorisch arbeiten. Beim Sitzen auf einer starren Sitzfläche wird uns ebendiese Stabilisation des Beckens massiv erleichtert, weil wir dafür nicht aktiv sein müssen. Aber: Alle passiven Körperhaltungen (auch das unbewegliche Sitzen), die über einen längeren Zeitraum eingenommen werden, degenerieren unsere motorische Steuerung.
Aktion gleich Reaktion
Positionieren wir unser Becken auf einer pendelnd dynamisch gelagerten Sitzfläche, so bildet diese keinen absoluten Fixpunkt mehr für unser Becken und die Stabilisation muss aktiv bewerkstelligt werden. Jede Bewegung, die wir durchführen, von Schwankungen des Rumpfes, Bewegungen der Beine, der Arme und des Kopfes, führen zu einer Bewegung beziehungsweise Auslenkung der Sitzfläche nach dem Prinzip von „Aktion gleich Reaktion“. Die Bewegungen werden dazu von den erwähnten zahlreichen Meldeorganen, vor allem in den Muskeln und der Haut des Gesäßes, an das zentrale Nervensystem gesendet und führen zu einer aktiven Antwort.
Kippen oder pendeln?
Kippen oder pendeln – betrachtet man die Auslenkung der Sitzfläche aus biomechanischer Sicht, ist das seitliche Beckenkippen im Sitzen als problematisch anzusehen. Eine aktive Beckenstabilisation ist ökonomisch nämlich nur im Stehen möglich, wo das seitliche Beckenabkippen durch den mittleren und kleinen Gesäßmuskel gestützt wird. Ein im Sitzen seitlich abkippendes Becken kann jedoch nicht durch diese beiden Gesäßmuskeln abgesichert werden – die durch das Sitzen eingenommene Hüftbeugung lässt das biomechanisch nicht mehr zu. Die Aufgabe der Beckenstabilisation beziehungsweise des kontrollierten Beckenabkippens muss dann durch andere Muskeln gewährleistet werden. Zu allererst geschieht dies durch den quadratischen Lendenmuskel, der durch seine bedingte Eignung schnell schmerzhaft überlastet. Eine pendelnd gelagerte Sitzfläche hingegen hält das Becken in der Vertikalen stabil. Da auf diese Weise kein unnormales seitliches Abkippen des Beckens im Sitzen auftritt, wird auch der quadratische Lendenmuskel nicht übermäßig beansprucht. Das tiefenstabilisierende Muskelsystem wird jedoch aktiviert, um die Wirbelsäulensegmente zu stabilisieren und eine größere Auslenkung zu unterbinden – das Herunterfahren der motorischen Steuerung und die daraus folgende Degeneration werden verhindert.
Kleine, fein dosierte Dynamik
Auch bei pendelnden Sitzsystemen gilt zu beachten, dass die Auslenkungen der Sitzfläche klein und horizontal gehalten werden. Ziel ist es, möglichst nur das tiefenstabilisierende System zu aktivieren. Durch kleine Bewegungen werden vor allem die Rezeptoren der überwiegend horizontale verlaufenden Segmentmuskeln stimuliert. Die ohnehin meist überlasteten großen Muskeln werden über ihre normale Haltefunktion hinaus nicht aktiviert, durch das aktive segmentale Muskelspiel möglicherweise sogar entlastet. Gerade weil keine großen Auslenkungen und keine „Unsicherheit“ entstehen, bleibt die unerwünschte Aktivierung großer Muskelverbände aus.
Entscheidendes Kriterium für die Qualität dynamischen Sitzens ist dabei die Koordination des Nerv-Muskel-Zusammenspiels, nicht die primäre Mobilität passiver Strukturen, wie z.B. der Bandscheiben. Kippende Bewegungen wirken sich eher nachteilig aus, da diese unnötig die ohnehin überlasteten oberflächigen Muskeln beanspruchen. Zu starkes Kippen lenkt dabei möglicherweise von der konzentrierten Arbeit ab und ist in der sitzenden Position in Bezug auf die Beckenstabilisation unphysiologisch. Wird hingegen die Aktivität der tiefenstabilisierenden Muskulatur aufrechterhalten (Pendelprinzip) und das Gehirn so mit ausreichenden Informationen aus dem Bewegungsapparat versorgt, wird die wichtige Lenden-Becken-Stabilisation gefördert und so ein dauerhaft schmerzfreies Sitz-Arbeiten möglich.
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