Die Funktionsanatomie des Sitzens – das sollten Sie wissen! Teil 2: Die Bandscheiben


Für das Verständnis der Ergonomie des Sitzens sind funktionsneurologische und funktionsanatomische / biomechanische Kenntnisse und Betrachtungsweisen wichtig. Mit diesem zweiteiligen Beitrag bieten wir Ihnen einen kleinen Einblick in die Funktionsanatomie unserer Wirbelsäule. In diesem zweiten Teil fokussieren wir uns auf die Bandscheiben, da diese in der Argumentation ergonomischer Hilfsmittel eine besondere, wir meinen jedoch unberechtigte Aufmerksamkeit bekommen.

Die Bandscheibe ist nicht, wie immer wieder behauptet, ein Puffer, sondern ein Bewegungselement, das die Bewegungen der Wirbelkörper zueinander zulässt und begrenzt. Wenn wir uns die Bandscheibenfunktion bei Vierbeinern betrachten fällt auf, das die Bandscheiben hier wenig axiale Belastung erfahren sondern Bewegungselemente sind, die die Bewegungen der Wirbelkörper zueinander zulassen. Wir Menschen haben uns im Verlauf der vergangenen ca. acht bis zehn Millionen Jahren aufgerichtet, wodurch die Bandscheiben eine axiale Belastung bekommen. Dass die Bandscheiben jetzt auch eine gewisse Stoßdämpfende Funktion haben ist der gegenwärtige Nutzen, nicht die Ursache der evolutionären Bandscheibenentwicklung. Diesen Nebeneffekt der axialen Stoßdämpfung nehmen wir gerne hin. Neben den Bandscheiben wird auch der Doppel-S-Form der Wirbelsäule eine Stoßdämpfende Funktion zugesprochen. Dies stellt jedoch ebenfalls den gegenwärtigen Nutzen dar, da die Ursache dieser Krümmungen in der Aufrichtung an sich liegt.

Konzentrieren wir uns jedoch im Folgenden auf die Bandscheiben, denn diese müssen immer noch als Übeltäter vieler Rückenleiden herhalten. Gerade bei der Nutzenanalyse ergonomischer (beweglicher) Sitzsysteme stehen die Belastungen resp. die Entlastungen bestimmter Sitzhaltungen auf die Bandscheibe im Fokus der Argumente.

Seitdem im 19. Jahrhundert die ersten Bandscheibenvorfälle als Ursache von Rückenschmerzen vermutet wurden und durch die seit den 1930er Jahren zunehmend routinemäßig durchgeführten Bandscheibenoperationen, nimmt dieser Scheibenförmige Faserring den Mittelpunkt des Interesses ein.

Die 23 Bandscheiben liegen zwischen den Wirbelkörpern der Hals-, Brust- und der Lendenwirbelsäule. Lediglich die gelenkige Verbindung zwischen Hinterhaupt und dem ersten Halswirbel und zwischen dem ersten und dem zweiten Halswirbel verfügt über keine Bandscheibe. Eine Bandscheibe besteht aus zwei Bestandteilen, aus einem äußeren Faserring und aus einem inneren, gallertartigen Kern.

 

Abbildung: Wirbelsäulenquerschnitt mit u.a. der Bandscheibe, bestehend aus dem äußeren, mehrschichtigen Faserring und dem inneren, gallertartigen Bandscheibenkern. (Bildquelle: Spiegel-Verlag)

Der Faserring ist aus mehreren Schichten aufgebaut, wobei v.a. die äußeren Schichten eine große Festigkeit aufweisen und nur einen geringen Anteil an elastischen Fasern haben. Die Gewebsfasern der einzelnen Faserringschichten liegen in unterschiedlichen Richtungen zueinander, wodurch jede Bewegung in einem Wirbelsegment optimal mechanisch gedämpft wird. Die äußerste Faserschicht wird noch von Blutgefäßen versorgt und dadurch ernährt. Auch wird der äußere Bandscheibenbereich von Nerven versorgt. Im übrigen Bandscheibengewebe gibt es weder Nerven noch Gefäße. Die Bandscheibe besitzt in der Mitte nicht nur vermehrt elastische Fasern, sondern auch einen Kern gallertartiger Substanz. Dieser wirkt als hydroelastisches Bewegungselement, da er die Fähigkeit besitzt, Wasser zu binden. Durch seinen Druck übt er Spannung nach allen Seiten aus. Dieser hält den Abstand zwischen zwei Wirbelkörpern aufrecht.

Die Ernährung der Bandscheiben findet nur zum geringen Teil über die Blutgefäße des äußeren Faserringes statt. Der Hauptteil des Bandscheibenstoffwechsels findet durch den Wechsel von Druckbe- und Entlastung der Bandscheiben statt. Dies geschieht, indem bei Druck Flüssigkeit aus der Bandscheibe in die Umgebung, vorwiegend in den Wirbelkörper, abgegeben wird (dieser Vorgang wird als Dehydration bezeichnet). Auf der Ober- und Unterseite eines Wirbelkörpers, den sogenannten Deckplatten, befindet sich eine ca. 1 mm dicke Knorpelschicht. Durch diese Knorpelschicht und durch die Deckplatten des Wirbelkörpers kann die Nährflüssigkeit, die zu ca. 80% aus Wasser besteht, hindurchdringen. Das geschieht zum einen mechanisch. Bei Druck auf die Bandscheibe, z.B. im Sitzen oder Stehen, wird diese gepresst und die Flüssigkeit wird in den Knorpel und in den Wirbelkörper gedrückt. Bei Entlastung der Bandscheibe, z.B. beim Liegen, entsteht durch die nicht mehr axial wirkende Schwerkraft und die nachlassenden Muskelspannungen ein vorrübergehender Unterdruck in dem Bandscheibengewebe und die Flüssigkeit wandert langsam zurück in die Bandscheibe (dieser Vorgang wird als Rehydration bezeichnet). Interessant ist, das diese Nährflüssigkeit nicht nur mechanisch von der Bandscheibe in den Knorpel und Wirbelkörper bzw. aus dem Wirbelkörper und Knorpel in die Bandscheibe gepresst und gesogen wird, sondern auch chemisch und nach anderen physikalischen Prinzipien. Die Grundsubstanz der Nährflüssigkeit ist nicht das Wasser, sondern ein Makromolekülgemisch. Dieses besitzt eine starke Wasseranziehungskraft (die sog. Proteoglykane dieser Grundsubstanz besitzen eine hydrophile Kraft, die Elektrolyte dieser Grundsubstanz besitzen eine osmotische Kraft) und hat dadurch großen Einfluss auf die Elastizität und Quellbarkeit der Bandscheibe bzw. des Gallertkernes. Es findet dadurch nicht nur ein mechanischer Flüssigkeitstransport statt, da mit der Zunahme von Wasser in der Bandscheibe diese Grundsubstanz verdünnt wird und dadurch die Ansaugkraft reduziert. Kommt es durch eine mechanische Belastung der Bandscheibe zu einer vermehrten Wasserabgabe aus der Bandscheibe, so nimmt die Konzentration der Grundsubtanz relativ zu und sie zieht Flüssigkeit in die Bandscheibe zurück. Dieser Druck, den die Grundsubstanz aufbaut, wirkt dem mechanischen Druck entgegen und verhindert damit eine Aufquellung der Bandscheibe bzw. eine Flüssigkeitsleere der Bandscheibe. Diese Flüssigkeitsleere könnte aufgrund des Höhenverlustes zu Instabilitäten in den Wirbelsegmenten und zu Überlastungen der kleinen Wirbelbogengelenke führen.

Nachdem wir uns nun erste Kenntnisse speziell zu den Bandscheiben erworben haben, wollen wir uns einmal die Bandscheibenbelastungen in verschiedenen Körperhaltungen anschauen und aus all dem gewonnenen anatomisch-biomechanischen Wissen praktische Konsequenzen für dynamisches Sitzen ziehen:

Die Grenze der Flüssigkeitsaufnahme und –abgabe liegt bei einem Belastungsdruck der Bandscheibe im unteren Lendenbereich von etwa 80 kg. Durch verschiedenen Körperraumlagen und Körperhaltungen wird dieser Druck wesentlich beeinflusst. In den 1960er Jahren wurde zum ersten Mal die Abhängigkeit des inneren Bandscheibendruckes in Bezug zu verschiedenen Körperhaltungen von Alf Nachemsons gemessen und beschrieben (vgl. Nachemsons 1964). Diese ursprünglichen Messungen wurden an lebenden, beschwerdefreien Menschen mit Sonden in den Bandscheiben der unteren Lendenwirbelsäule vorgenommen. Jüngere Studien (v.a. von Wilke et al. 1999, 2001) stützten die ursprünglichen Ergebnisse weitestgehend. So herrscht in Rückenlage ein durchschnittlicher Bandscheibendruck von ca. 25 kg, im Stehen ein durchschnittlicher Bandscheibendruck von ca. 100 kg und im Sitzen ein durchschnittlicher Bandscheibendruck von ca. 140 kg (Körpergewicht und Muskelzug). Ob das Sitzen statisch oder dynamisch gestaltet ist wird an diesem Druck nichts ändern! Ganz im Gegenteil: Studien haben belegt, dass der Bandscheibendruck bei Kippbewegungen ansteigt (u.a. Reuber et al. 1982; Shirazi-Adl et al. 1986, Adams et al. 1994, Steffen et al. 1998). Ein innerer Bandscheibendruck von 140 kg ist beeindruckend hoch, für ein gesundes Bandscheibengewebe aber gut verkraftbar. Auch über eine längere Zeit des Sitzens kann die Bandscheibe diesem Druck problemlos standhalten, ohne Schaden zu nehmen. Wenn wir uns noch einmal bewusst machen, dass die Grenze der mechanischen Flüssigkeitsaufnahme in die Bandscheibe bei ca. 80 kg liegt, so führen alle vertikalen Körperhaltungen zu keiner ausreichenden Entlastung der Bandscheibe, in der das Flüssigkeitsvolumen signifikant zunehmen kann. Der Wechsel zwischen Stehen und Sitzen am Arbeitsplatz leistet keinen entscheidenden Beitrag, die Flüssigkeitsaufnahme in die Bandscheibe zu verbessern, da der Bandscheibendruck bei einem derartigen Haltungswechsel deutlich über dem Grenzwert der mechanischen Flüssigkeitsaufnahme liegt. Zahlreiche Studien (vgl. z.B. Leivseth & Drerup 1997, Magnusson 1990 und 1996) belegen, dass Stehen keine Alternative zum Sitzen darstellt, was den Höhenverlust der Bandscheibe durch die Belastung betrifft. Entlastender scheint der Wechsel zwischen der aufrecht sitzenden Position und der auf dem Bürostuhl mit Hilfe der Synchronmechanik und Nackenstütze nach hinten abgelegten Position bei hochgelegten Beinen zu sein. Hier unterschreitet der interne Bandscheibendruck der Grenzwert der mechanischen Flüssigkeitsaufnahme gering. Messungen haben hier einen Druck von ca. 75 kg in der Bandscheibe ergeben. Dies erweist sich während beruflich sitzenden Tätigkeiten noch als die beste Maßnahme der Drucksenkung in der Bandscheibe, vorausgesetzt, die nach hinten abgelegte Position wird mindestens 20 Minuten beibehalten! Je weiter sich der Sitzende mit Hilfe der Synchronmechanik nach hinten ablegen kann, desto mehr wird der innere Bandscheibendruck sinken. Die Füße sollten dabei mindestens auf Hüfthöhe, also auf dem Tisch liegen. Dabei kann man jedoch nur Chef sein und nicht effektiv arbeiten. Die Einnahme dieser Entspannungshaltung bleibt also kurzen Augenblicken der Gedankensammlung oder eines Telefonates vorbehalten. Grundsätzlich ist zu überlegen, ob man dafür nicht besser aufstehen sollte um sich zu bewegen, denn der Bewegung ist ein allgemein größerer Nutzen beizumessen als dem ruhenden Sitzen.

Aus diesen Erkenntnissen stellt sich grundlegend die Frage, kann eine wie auch immer dynamisch gelagerte Sitzfläche einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung der Bandscheiben und den gesamten passiven Strukturen der Wirbelsäule liefern? Um diese Frage beantworten zu können, reichen die rein biomechanisch-anatomischen Erkenntnisse nicht aus. Denn diese Frage ist bei unserem jetzigen Kenntnisstand klar zu verneinen, zumal die durch die dynamischen Sitzflächen erhöhte Muskelaktivität an der Wirbelsäule den Druck auf die Bandscheiben erhöhen könnte! Mehr Bewegung in einem Segment nimmt nicht den Druck von der Bandscheibe, kann aber deren Widerstandsfähigkeit und Faserausrichtung optimieren. Um die Wertigkeit dynamischen Sitzens beurteilen zu können, kommen wir allein mit biomechanischen Betrachtungen nicht weiter sondern müssen uns neurophysiologische Überlegungen zu Eigen machen. Die Argumentation anhand passiver Strukturen wie der Bandscheibe oder der Wirbelbogengelenke ist zu einseitig und geht am Kern des Problems Rückenschmerz und Ergonomie vorbei.


Fazit: Die Bandscheiben sind Bewegungselemente in den einzelnen Segmenten der Wirbelsäule. Die Ernährung der Bandscheiben findet nur zu einem geringen Teil über die Blutversorgung, zu einem größeren Teil über hydrophile und osmotische sowie mechanische Kräfte statt. Die Bandscheiben sind während allen vertikalen Körperhaltungen starken Druckbelastungen ausgesetzt. Erst horizontale Körperraumlagen, die mindestens 20 Minuten eingenommen werden, entlasten die Bandscheiben in dem Sinne, dass sie sich durch einen nun entstehenden Unterdruck mechanisch mit Wasser anreichern können. Sämtliche ergonomische Bürostühle leisten keinen Beitrag für eine direkte Bandscheibenentlastung in der vertikalen Oberkörperhaltung.


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